18.12.2018

Das sind die Auswirkungen für Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung

Eine aus Ihrer Sicht als Schwerbehindertenvertretung hochinteressante Frage: Was kommt auf meine Kollegen mit Schwerbehinderung in der digitalen Arbeitswelt zu? Antwort darauf: Sowohl positive Veränderungen als auch Herausforderungen. Welche genau, lesen Sie nachstehend.

Das sind die positiven Veränderungen für schwerbehinderte Mitarbeiter:

Faktor Behinderung wird obsolet 

Immer mehr Eigenschaften sind gefragt, bei denen die Behinderung kein Hindernis ist – im Gegenteil: interdisziplinäres Denken, Teamarbeit, gute Kommunikation, lebenslanges Lernen und digitale Skills etc.

Tipp: Selbstbewusstsein gegenüber dem Arbeitgeber
Empfehlen Sie Ihren Kollegen ein Gespräch, wenn der Arbeitgeber fragt, ob sie mit dem digitalen Wandel zurechtkommen werden. Formulierungsvorschlag für Gespräch: „Der digitale Wandel ist nicht zu unterschätzen, aber ich bringe gute Voraussetzungen dafür mit. Meine Behinderung sensibilisiert mich, effektiv im Team zu arbeiten und gut zu kommunizieren. Da meine unterschiedlichen körperlichen Belastungen regelmäßig Anpassungen im Arbeitsalltag erfordern, habe ich zudem gelernt, bei Bedarf nach geeigneten Problemlösungen zu suchen und neue Erfahrungen sinnvoll einzusetzen.“

Bessere und mehr Einsatzmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung

Es kommt zur Öffnung in vielen Branchen wie z. B. im kaufmännischen Bereich, in den Ingenieurswissenschaften und einigen Teilen der Industrie. Dies ist den modernen technischen und digitalen Hilfsmitteln und Systemen zu verdanken, und zwar:

  • persönliche Arbeitshilfen (z. B. Vergrößerungshilfsmittel für Sehbehinderte)
  • neue Möglichkeiten der Kommunikation wie etwa intelligente Spracherkennung und Sprachausgabe, moderne Akustikanlagen, Skype, Social Media
  • digitale Assistenzsysteme, die Betroffene bei ihren Tätigkeiten unterstützen. Intelligent sind sie dann, wenn sie eingebettet in ein IT-System in der Lage sind, selbstständig auf Situationen zu reagieren und sich an die jeweiligen Mitarbeiter individuell anzupassen. Grundsätzlich gibt es 3 Formen von Assistenzsystemen:

Ausführungssysteme für die Arbeitsausführung, Wahrnehmungssysteme für die Informationsaufnahme, Entscheidungssysteme für die Informationsverarbeitung.

Neue Führungsformen mit neuen Schwerpunkten und anderem Umgang mit den Arbeitnehmern

  • Neue Kultur der Zusammenarbeit:
    • Stärkung demokratischer Partizipation und selbstbestimmten Empowerments („Ermächtigung, Übertragung von Verantwortung“): Der einzelne Mitarbeiter bekommt mehr Verantwortung und soll die neuen digitalen Möglichkeiten nutzen. Zudem animieren gute Führungskräfte zum teaminternen Netzwerken.
    • Einzug von Diversität in Unternehmen: Akzeptanz für und höhere Transparenz von unterschiedlichen Mitarbeitertypen und Einschränkungen steigt.
    • Es gibt eine neue Offenheit durch mehr interkulturelle Einflüsse.
    • Veränderungsmanagement: Vorgesetzte und Unternehmen nehmen häufiger Veränderungen und Anpassungen ihrer Geschäftsstrategie vor.
    • Neue Relevanz kommunikativer und sozialer Kompetenzen: Darin sind Menschen mit Behinderung häufig stark.

Tipp: Weisen Sie auf neue Perspektiven hin 
Wenn sich in Ihrem Unternehmen diese positiven Tendenzen wiederfinden, weisen Sie die schwerbehinderten Kolleginnen und Kollegen bei Bedarf unbedingt darauf hin. Es erleichtert ihnen den Arbeitsalltag. Vorgesetzte sind im digitalen Zeitalter offener, gesprächsbereiter und viel mehr zu behinderungsbe­ dingten Anpassungen bereit. 

  • Kultur der Visionen und Innovationen: In vielen Unternehmen denkt man in Visionen und fördert kreatives Denken. Auch disruptives Denken ist gewünscht, das heißt etwas revolutionieren bzw. „neu denken“. Menschen mit Behinderung haben hier oft Vorteile, weil sie es gewohnt sind, sich häufiger auf etwas Neues einzulassen, das ihr Alltagsleben auf den Kopf stellt. 

  • Standardkarriere war gestern: Arbeitnehmer sind vermehrt dazu aufgerufen, ihre Laufbahn im Unternehmen nach individuellen Sinn- und Entwicklungsansprüchen zu gestalten. Auch für engagierte Arbeitnehmer mit Behinderung ist es einfacher geworden, eine eigene Position im Betrieb zu definieren und auszufüllen. 

Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort 

Arbeitszeiten werden vor allem durch Home-Office flexibel über verschiedene Arbeitsorte und Tageszeiten verteilt. Ein passendes Zeit- und Anwesenheitsmodell ermöglicht es Arbeitnehmern mit Behinderung, zum einen ihre Bedürfnisse besser zu berücksichtigen und zum anderen sehr effektiv zu arbeiten. 

Verbesserung bei Gesundheitsschutz und Prävention 

Der Umbruch technischer Arbeitsfelder verringert die klassischen körperlichen Belastungen wie Staub, Lärm und Last. An diese Stelle tritt zunehmend eine ergonomische und gesundheitsfördernde Arbeitsgestaltung durch entsprechende Maschinen, Werkzeuge und verstellbare Arbeitsebenen (z. B. Industrieroboter YuMi, ein mitdenkendes Werkzeug, das belastende körperliche Tätigkeiten erleichtert). Praxisbeispiel: Roboter und Mensch arbeiten am Fließband von Ford in Köln im Team zusammen. 

Erfolgreicheres betriebliches Eingliederungsmanagement durch Digitalisierung der Medizin
Gesundheits-Apps und schnellerer Datenzugang verbessern das Tempo und die Qualität der medizinisch-beruflichen Behandlungsmaßnahmen. Das Ziel der betrieblichen Prävention nach § 167 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX – die Überwindung und zukünftige Vermeidung von Arbeitsunfähigkeit – lässt sich somit besser und schneller erreichen. 

Tipp: Neue Technik für die Gesundheit nutzen!
Machen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen auf die digitale Unterstützung im Gesundheitswesen aufmerksam: Gesundheits­-Apps sind eine praktische Methode bei allgemeinen gesundheitlichen Problemen oder für die Terminsuche bei Fachärzten. In der Regel berät die Krankenkasse Ihre schwer­ behinderten Kollegen bei konkreten Fragen unterstützend.

Das sind die Herausforderungen für Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung: 

  • Abbau klassischer Arbeitsplätze:Dies gilt vor allem für Arbeitsplätze, die explizit für Arbeitnehmer mit Behinderung geeignet waren, beispielsweise Telefondienste, die für Menschen mit Sehbehinderung eine ideale Tätigkeit waren. Computergesteuerte Infos im Netz haben diese inzwischen ersetzt. Allerdings kann der Bedarf an (hoch)qualifizierten Fachkräften nicht mehr gedeckt werden. Für Arbeitnehmer mit Behinderung liegt darin eine große Chance. 

Praxisbeispiel: Für die Erstellung von barrierefreien Webseiten fehlt es an qualifizierten Fachkräften. Ein Großteil der europäischen Web- und App-Entwickler ist nicht in der Lage, funktionierende Schnittstellen für Menschen mit Behinderungen zu entwickeln. 

  • Abkopplung von Arbeitnehmern mit Einschränkungen: Wenn Unternehmen sich den veränderten Rahmenbedingungen nicht schnell genug anpassen, werden sie auf dem Markt „aussortiert“ (digitaler Darwinismus). Viele ältere, aber auch schwerbehinderte Beschäftigte haben Probleme, mit der Digitalisierung am Arbeitsplatz Schritt zu halten. Sie benötigen dringend Weiterbildungen, um die neuen digitalen Möglichkeiten einsetzen zu können. Die Weiterbildungen müssen so gestaltet sein, dass für die Beschäftigten kein Zusatzaufwand entsteht und sie nicht überfordert werden. Keine Lösung ist, wenn Ihr Arbeitgeber bei bestimmten Fällen einfach auf eine Weiterbildungsmaßnahme verzichtet. 

  • Schnelligkeit und maximale Anpassungsfähigkeit (Mobilität): Das bedeutet für Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung eine große Herausforderung, da sie oft mehr Zeit benötigen. Beispielsweise sind schwerer eingeschränkte Personen wie E-Rollstuhlnutzer weniger mobil. Dafür sind solche Personen oft sehr anpassungsfähig und flexibel. Durch das Internet bietet auch das Home-Office weitreichende Möglichkeiten.  

Tipp: Für Hilfsmittel sensibilisieren
Ihre Kollegen mit Sehbehinderung sind von einer zunehmen­ den Visualisierung besonders stark betroffen. Es gibt geeignete Hilfsmittel wie z. B. Vergrößerungssoftware, die sie im Arbeitsalltag zunächst ausprobieren und erlernen müssen. Bestärken Sie die Kollegen darin, sich dabei nicht unter Druck zu setzen, und helfen Sie mit, den Arbeitgeber dafür zu sensibilisieren.

  • Gesundheitliches Risiko für Psyche und Physis nimmt zu 
  • Zunahme psychischer Belastungen: Hauptgründe sind die stärkere Arbeitsverdichtung und zeitliche Entgrenzung von Arbeit und Privatleben. Der Arbeitnehmer ist permanent auch zu Hause verfügbar und vergisst abzuschalten. Gepaart mit komplexeren Arbeitsprozessen und größerem Zeitdruck – hervorgerufen durch die digitale Arbeitswelt – neigen gerade schwerbehinderte Arbeitnehmer dazu, sich zu viel vorzunehmen oder zu wenig Zeit einzuplanen. Im schlimmsten Fall können die genannten Faktoren zu Burnout führen!
  • Mehr Versagensängste: Dass fortwährende Weiterqualifizierung unter anderem für die Funktionsweisen neuer digitaler Arbeitsmittel unumgänglich geworden ist und eine Kultur der befristeten Arbeitsverträge vorherrscht, führt oft zu Versagensängsten bis hin zu psychischen Störungen. Um dem vorzubeugen, können Auffrischungslehrgänge helfen, Ihre Kollegen auf dem neuesten Stand des Fachwissens zu halten. 
  • Höhere physische Belastung: Fehlende Bewegung durch zunehmende Automatisierung fördert Muskel-Skelett- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Mögliche Folgen durch intensive PC-Arbeit sind z. B. größeres Risiko einer Fehlhaltung, die zu Rückenproblemen führt (Bandscheiben), oder Augenbeschwerden wie Kurzsichtigkeit, juckende, tränende Augen oder Kopfschmerzen. Das Risiko des grünen und grauen Stars steigt langfristig. 

Wahrung des klassischen Arbeitnehmerschutzes 

Einige Faktoren wie eine schnellere und komplexere Arbeitserwartung von Kunden und Arbeitgebern, befristete Arbeitsverträge und erhöhte Überwachungsmöglichkeiten durch Informations- und Kommunikationstechnik drohen den Arbeitnehmerschutz auszuhebeln. 

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