13.02.2018

Nachschieben von Kündigungsgründen bei schwerbehinderten Menschen

Das Nachschieben von Kündigungsgründen ist im arbeitsrechtlichen Klageverfahren üblich und akzeptiert. Anders sieht die Lage im Fall der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen aus, der unter dem Kündigungsschutz der §§ 85 ff. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) steht. Hier hat der Arbeitgeber nur unter dem Vorbehalt der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts das Recht zur Kündigung. Welche Folgen das für ein nachfolgendes arbeitsgerichtliches Verfahren hat, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Im arbeitsgerichtlichen Klageverfahren um eine Kündigung ist das Nachschieben von Kündigungsgründen seitens der Arbeitgeberseite keine Seltenheit.

Allgemeine arbeitsgerichtliche Handhabung beim nachschieben von Kündigungsgründen

Sofern es sich nicht um einen schwerbehinderten Menschen mit Sonderkündigungsschutz handelt, wird ein solches Vorgehen heute überwiegend akzeptiert. Die normalen Regeln des allgemeinen Kündigungsschutzes lassen das umfassend zu.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hält – anders als noch in den 1980er Jahren – auch das vollständige Auswechseln von Gründen nur in besonderen Fällen für unzulässig. Die Grenze ist da sehr weit: So stellt ein BAG-Urteil vom 6.9.2007 (Az. 2 AZR 264/06) fest, dass Kündigungsgründe, die dem Kündigenden bei Ausspruch der Kündigung noch nicht bekannt waren, uneingeschränkt nachgeschoben werden können, wenn sie bereits vor Ausspruch der Kündigung entstanden sind.

In dem zugrunde liegenden Fall wurde ursprünglich wegen sexueller Belästigung fristlos gekündigt. Das BAG akzeptierte dann aber als alleinigen nachgeschobenen Kündigungsgrund einen einmaligen Spesenbetrug. In 2 Fällen einer außerordentlichen Kündigung Schwerbehinderter nahm das BAG die Haltung ein, dass zumindest dann, wenn der nachgeschobene Kündigungsgrund nicht im Zusammenhang mit der Behinderung stehe, das Nachschieben zulässig sei.

BAG: Nur in besonderen Fällen können auch bei schwerbehinderten Menschen Kündigungsgründe nachgeschoben werden

In solchen Fällen einer Kündigung ohne Bezug zur Behinderung wäre eine schwerbehindertenrechtliche Zustimmung zu erteilen, Kündigungsgründe dürfen ausgetauscht werden (BAG, 20.1.1984, Az. 7 ARZ 143/82; 19.12.1991, Az. 2 AZR 367/91). Die arbeitsrechtliche Rechtsprechung folgt dieser Auffassung nur zum Teil, das heißt, einige Arbeitsgerichte lassen das Nachschieben von Gründen auch bei Schwerbehinderten zu, andere nicht, weil sie sich an der nachstehend beschriebenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) orientieren.

BVerwG: Zustimmung wird immer nur für einen konkreten Kündigungsgrund erteilt

Das BVerwG hält – anders als das BAG – das Nachschieben von Kündigungsgründen für unzulässig. Die Zustimmung des Integrationsamtes ergehe stets nur auf Grundlage eines bestimmten Kündigungsgrundes, der deswegen eben nicht im arbeitsgerichtlichen Verfahren ausgetauscht werden könne (BVerwG, 12.7.2012, Az. 5 C 16/11).

Wie bewertet die Fachliteratur diesen Widerspruch?

Die juristische Kommentarliteratur ist sich uneinig. Nur teilweise wird der Austausch von Kündigungsgründen für unzulässig erklärt. In anderen Kommentaren wird die bedingte oder uneingeschränkte Zulässigkeit als gegeben betrachtet.

Zu den Besonderheiten des Nachschiebens von Kündigungsgründen bei Sonderkündigungsschutz wurde 2015 von der Arbeitsrichterin Nägele-Berkner eine juristische Studie vorgelegt. Diese arbeitet klar heraus: Die Besonderheiten des öffentlich-rechtlichen Zustimmungsverfahrens nach §§ 85 ff. SGB IX verbietet es grundsätzlich, neue Kündigungsgründe in verschiedenen Stadien des Zustimmungsverfahrens verwertbar einzubringen. Erst recht lehnt sie den Austausch oder das Nachschieben von Kündigungsgründen im arbeitsgerichtlichen Kündigungsschutzverfahren ab.

Ich teile diese Auffassung, was aber nichts daran ändert, dass Sie als Schwerbehindertenvertretung mit der Vielfalt der juristischen Meinungen leben müssen.

Fazit und Praxistipp

Unter der Vielzahl juristischer Auffassungen ist die günstigste für Sie und die schwerbehinderten Menschen: Der Arbeitgeber darf vor dem Arbeitsgericht keine neuen Kündigungsgründe nachschieben. Das würde heißen, dass Sie Ihre Stellungnahme an das Integrationsamt nach § 87 SGB IX im Lichte von 2 Annahmen erarbeiten können:

  • Diese Stellungnahme ist nicht nur wichtig für die Entscheidung des Integrationsamtes, sondern im eventuellen Klagefall auch noch einmal bei einem arbeitsgerichtlichen Prozess.
  • Außerdem kann sich der Arbeitgeber auch vor dem Arbeitsgericht nur auf die vorher im Zustimmungsverfahren vorgetragenen Kündigungsgründe berufen.

Und die haben Sie dann ja schön sachlich umfassend kritisiert.

Lassen Sie sich aber in Ihrem Engagement in Kündigungsschutzverfahren nicht entmutigen, wenn Ihre schwerbehinderten Kollegen auf Arbeitsgerichte treffen, die anders entscheiden!

Zumindest solange das BAG seine bisherige Recht – sprechung nicht aufgibt, wird es absehbar weiter Arbeitsgerichte geben, die ein Nachschieben von Kündigungsgründen auch bei Schwerbehinderten für zulässig erklären. Raten Sie Ihren gekündigten Kolleginnen und Kollegen, beim Vortrag neuer Kündigungsgründe ein neues Zustimmungsverfahren vor dem Integrationsamt zu verlangen!

Praxistipp: Mit welchen Gründen können Sie gegen eine Kündigung argumentieren?

In Ihrer Stellungnahme können Sie sich gegen die Kündigung aussprechen – am besten in Abstimmung mit dem Betriebs-/Personalrat. Prüfen Sie anhand der nachfolgenden Liste, was in Ihrem Fall zutrifft:

  • Der Arbeitgeber hat bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt.
  • Die Kündigung verstößt gegen eine Richtlinie nach § 95 Betriebsverfassungsgesetz.
  • Der zu kündigende Arbeitnehmer kann an einem anderen Arbeitsplatz im Unternehmen weiterbeschäftigt werden.
  • Die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers ist nach zumutbaren Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen möglich.
  • Eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers ist unter geänderten Vertragsbedingungen möglich und der Arbeitnehmer hat sein Einverständnis damit erklärt.

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