16.11.2020

Unwirksamkeit von Kündigungen schwerbehinderter Menschen

Was müssen Sie eigentlich alles beachten, wenn Sie Schwerbehinderte kündigen wollen? Überraschend schnell liegt jetzt ein erstes Urteil zur 2016 neu eingeführten Vorschrift zur Unwirksamkeit von Kündigungen schwerbehinderter Menschen vor, bei der der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt hat.

Ein ausgesprochen sorgfältig begründetes Urteil des Arbeitsgerichts (ArbG) Hagen stellt fest, dass diese Beteiligung „am Beginn der vom Arbeitgeber zu treffenden Maßnahme“ – also der Kündigung – zu stehen hat (6.3.2018, Az. 5 Ca 1902/17). Beteiligt Ihr Arbeitgeber Sie als SBV nicht umfassend und rechtzeitig, ist dies ein Mangel, den er später nicht mehr durch Nachholen der Anhörung heilen kann.

Durch das Urteil stärkt das Gericht meines Erachtens Ihren allgemeinen Anhörungsanspruch aus § 178 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Das Urteil erklärt Ihre Anhörung zum Beginn einer Entscheidungsfindung in allen Angelegenheiten, die Schwerbehinderte einzeln oder als Gruppe betreffen, für unabdingbar.

Nur eine rechtzeitige Information und Anhörung durch den Arbeitgeber am Anfang des Entscheidungsprozesses stellen sicher, dass Sie als SBV auf seine Meinungsbildung durch Ihre Argumente Einfluss nehmen können. Genau diesen Kerngedanken des § 178 Abs. 2 SGB IX will das ArbG Hagen uneingeschränkt angewendet wissen.

 

Praxistipp: Erinnern Sie Ihren Arbeitgeber an Ihre Rechte

Wenn es auch in Ihrem Betrieb öfters mal keine oder keine rechtzeitige Information und Anhörung nach § 178 Abs. 2 SGB IX gibt, weisen Sie Ihren Arbeitgeber ruhig auf die Rechtslage hin – nicht nur bei Kündigungen. Die Vorschrift verlangt für alle Angelegenheiten, die einzelne schwerbehinderte Menschen oder die Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Er hat ihnen die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen.

Sie können bei Verstoß die Aussetzung der Entscheidung verlangen. Jetzt das Besondere: Außer im Kündigungsfall kann die Beteiligung binnen 7 Tagen nachgeholt werden.

Änderungskündigung wegen SAP-Einführung

Es handelt sich in dem Fall um eine ordentliche Änderungskündigung zum 31.12.2017, womit im Kern nur eine Option für das Unternehmen eröffnet wird, zu einem späteren, noch nicht benannten Termin das Gehalt abzusenken. Die Änderungskündigung wurde vom Unternehmen im Kontext einer geplanten Einführung des Warenwirtschaftssystems SAP vorgenommen. Die EDV-Umstellung sollte zum Anlass genommen werden, die Ablauforganisation des Unternehmens so zu verändern, dass sie den Wertschöpfungsprozess optimal unterstützt.

Die Änderungskündigungen waren mit teilweise nur geringfügigen Aufgabenveränderungen und Umsetzungen im Unternehmen verbunden. Es war strittig, ob diese Maßnahmen nicht sogar ohne Änderungskündigung möglich gewesen wären. Die betroffene Schwerbehinderte stimmte der Änderungskündigung unter Vorbehalt zu, erhob aber sofort danach Kündigungsschutzklage.

Sie wollte damit die Unwirksamkeit dieser Änderungskündigung feststellen lassen, insbesondere wegen fehlerhafter Beteiligung der SBV, aber auch wegen Sozialwidrigkeit und wegen des fehlenden dringenden betrieblichen Interesses. Das Integrationsamt hatte der Kündigung mit der Maßgabe zugestimmt, das Gehalt um maximal 15 % zu kürzen.

Unwirksamkeit liegt vor

Das ArbG Hagen ließ die Kündigung wegen der fehlerhaften Beteiligung der SBV nicht zu. Aufgrund der so vorliegenden Unwirksamkeit der Kündigung erübrigte sich jede weitere Prüfung.

Die Rechtsunwirksamkeit der Änderungskündigung vom 16.10.2017 folgt aus § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX. Es ist nämlich im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt wurde.

Der Arbeitgeber hätte die SBV bereits vor der Stellung des Zustimmungsantrags beim Integrationsamt unterrichten und anhören müssen. Wegen dieses rechtlichen Mangels der Kündigungserklärung war der Kündigungsschutzklage trotz der Annahme des Änderungsangebots unter Vorbehalt durch die Schwerbehinderte stattzugeben.

Auch bei fehlerhafter Beteiligung ist die Kündigung unwirksam Im Kern argumentiert das ArbG Hagen wie folgt: Seit dem 30.12.2016 wurde als zusätzliches Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen auch die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung statuiert. Der neu eingeführte § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX – heute: § 178 Abs. 2 Satz 3 – bestimmt, dass die Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung der SBV nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX ausspricht, unwirksam ist.
Die Unwirksamkeitsfolge tritt auch bei einer fehlerhaften Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ein, weil in diesem Fall ebenfalls keine Beteiligung nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX vorliegt. Fehlerhaft war in diesem Fall, dass die Information und Anhörung der SBV viel zu spät erfolgten.

Fazit: Wichtiges Urteil, obwohl noch nicht rechtskräftig

Obwohl es ein Urteil aus erster Instanz ist, das noch das Landesarbeitsgericht und eventuell auch das Bundesarbeitsgericht prüfen werden, sollte es breite Beachtung finden. Denn es ist sehr sorgfältig und mit vielen Literaturverweisen begründet worden.

Die Entscheidung stärkt Ihre Rolle als Schwerbehindertenvertretung, indem sie sich bei der Bedeutung der Anhörungsrechte für das Verfahren absolut am Wortlaut des § 178 SGB IX orientiert: Der Arbeitgeber muss Sie als SBV rechtzeitig anhören, sonst ist die Kündigung unwirksam! Nachholen kann er die Anhörung nicht, insbesondere nicht, wenn sie auch noch nach der Zustimmung des Integrationsamts stattfindet. Mit diesem Urteil können Sie auf die Bedeutung Ihrer Rolle im Betrieb und Ihr Anhörungsrecht immer wieder hinweisen.

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